Auf Spreeblick hat Frédérick Valin zwei heftig diskutierte Stücke geschrieben. Zum einen meint er, manche Entscheidungen von Personen müsse man stehen lassen, ohne sie näher einzuordnen. Und zwar aus Respekt vor der Person. "In mir steigt immer der fade Beigeschmack der Leichenfledderei auf, wenn in Gesprächen oder Artikeln begonnen wird, über die Motive eines Selbstmordes zu spekulieren." Zum anderen widerspricht er der Hypothese, mediale Berichterstattung gehe in jedem Fall mit einer erhöhten Suizidrate einher und führt dazu das Beispiel Kurt Cobain an. Dort zeigte sich der Werther-Effekt anscheinend nicht. Insofern kann der Werther-Effekt kein Argument sein gegen jegliche Berichterstattung über Suizide: "Es ist ohne Frage richtig, darüber zu diskutieren, wie man über Selbstmorde schreibt. Wie man daran arbeiten kann, nicht die Zahl der Selbstmorde in die Höhe zu treiben. Ich glaube aber nicht, dass „Schweigen“ eine angemessene Antwort ist."
Stefan Niggemeier vertritt die Gegenposition, dass das einzig richtige, ethisch vertretbare Verhalten der Verzicht auf jede Berichterstattung: "Wäre es also am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten? In den meisten Fällen, wenn es zum Beispiel nicht darum geht, etwa die Missstände in einer Schule aufzudecken, wo sich plötzlich viele Jugendliche das Leben nehmen, lautet die Antwort: Ja. Es wäre am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten."
Ist es tatsächlich so, dass jede Art der Berichterstattung über Suizide Menschen tötet? Ich bin da nicht ganz überzeugt. Woher wissen wir, dass es nicht nur eine Änderung der zeitlichen Verteilung ist? Könnte es der Fall sein, dass, wer sich heute nicht umbringt, es eben später tut?
Diese Hypothese wird in der Wissenschaft zumindest diskutiert. Selbstverständlich stehen nicht alle Suizide mit Depression oder anderen psychischen Störungen in Zusammenhang. (Mir ist keine Verteilung für unterschiedliche Ursachen bekannt. Naturgemäß ist die Forschung in dem Bereich eher schwierig und methodisch anspruchsvoll.) Jedoch kann man davon ausgehen, dass 15% der schwer Depressiven irgendwann Suizid begehen (Wittchen & Hoyer, 2008). Diese Personengruppe macht sich über sehr lange Zeiträume Gedanken über Art und Ort der Selbsttötung. Hier ist es also eher eine Frage des wann, nicht des ob. Gleiches gilt für die Bilanzsuizide, die im Alter vergleichsweise häufig auftreten.
Die entscheidende Frage ist daher, welcher Anteil der Suizide auf reines Modelllernen zurückgeht. Modelllernen besteht aus zwei Teilen: Dem rein kognitiven Anteil (etwas so-und-so-machen), und dem Konditionierungsanteil (ich bemerke, dass jemand belohnt wird, wenn er so-und-so tut). Es ist keineswegs so, dass man eine Handlung ausführt, nur weil ein Modell sie vorgemacht hat. Die Mehrzahl der hochgefährdeten Personen braucht meiner Meinung nach weder das Handlungswissen noch die Verstärkung. Hier dürfte die öffentliche Berichterstattung tatsächlich nur den Zeitpunkt beeinflussen, nicht aber die Inzidenz.
Das ganze dürfte anders bei spontanen Suiziden aussehen. (In gewisser Hinsicht ist jeder Suizid spontan - niemand wird schlüssig erklären können, warum sich jemand genau zu diesem Zeitpunkt zu diesem Schritt entscheidet.) Dazu schreibt eine Kommentatorin (#28) etwas Interessantes:
gestern vormittag haben sich drei schülerninnen meiner schule, einer förderschule, eine flasche vodka geklaut und geplant, sich vor eine s-bahn zu werfen.
den schülerinnen lässt sich mit sicherheit kein hoher iq nachsagen, dafür aber eine pubertäre und sehr naive weltsicht. wiederum zu wenig überzeugung, um ein solches vorhaben auszuführen. aber genug dummheit, um sich in gefährliche situationen hineinzumanövrieren. so endete das ganze für eine schülerin mit einer alkoholvergiftung und für eine andere mit einer einweisung in eine geschlossene abteilung (das mädchen hatte letzte woche bereits versucht, sich in der schule umzubringen, massiv geritzt etc.).
Hier dürfte der Fall demnach etwas anders gelagert sein. Meine Hypothese daher: Gewisse Hochrisikogruppen (soziodemographische Faktoren, Substanzmissbrauch, psychische Störungen) sind für das Modelllernen im Bereich Suizid sehr viel empfänglicher als andere Gruppen. Ein solches Modell ließe sich theoretisch daran überprüfen, dass es nur in einer Gruppe mit bestimmten Faktoren zu einer erhöhten Inzidenz nach einem öffentlich bekanntgewordenen Suizid kommt, jedoch nicht in der anderen Gruppe. Einen solchen Nachweis wird man aber wohl kaum führen können, da diese Frage nur prospektiv zu beantworten wäre, nicht aber retrospektiv.
Ich denke, es kann als gesichert gelten, dass durch eine Berichterstattung über Suizid Menschen zu Tode kommen, die andernfalls auch später keinen Suizid begangen hätten. Wie viele das sind, wird jedoch niemand sagen können. Es wird sehr viel von signifikanten Anstiegen gesprochen, jedoch nicht erwähnt, ob das 10, 100 oder 1000 Personen betrifft. Meiner Meinung ist dieser Preis jedoch unter gewissen Voraussetzungen zu rechtfertigen. Nämlich dann, wenn eine verantwortungsvolle und analytische Berichterstattung dazu führt, dass sich im Bereich der Versorgung psychischer Störungen sowie Suizidprävention etwas tut. Die Währung unserer Zeit ist Aufmerksamkeit, und die lässt sich nur massenmedial herstellen. Ich kann daher Stefan Niggemeier nicht zustimmen, wenn er sagt, er halte jede Art der Berichterstattung für unangemessen. Zumindest dann, wenn man (wie ich) davon ausgeht, dass der öffentlichkeitswirksame Fall des Robert Enke längerfristig zu einer positiv veränderten Wahrnehmung der Themen Depression und Suizid führt.
Im Übrigen weigere ich mich, das Thema Suizid ohne ein Mindestmaß an Humor zu behandeln.