Wie lang sind zwanzig Jahre? Birken in den Dachrinnen, Müll im Hinterhof, ein paar Wartburgs und Trabis am Straßenrand: Spazierte einer der heutigen Bewohner der Neustadt durch sein Stadtviertel, nachdem ihn eine Zeitmaschine im Jahr 1990 abgesetzt hätte, er dürfte seinen Augen kaum trauen.
Damals war das Viertel der Abrissbirne nur knapp entkommen. Obgleich vom Krieg verschont, war der DDR-Führung mehr an der Schaffung preiswerten neuen Wohnraums gelegen als an kostspielige Investitionen in historische Bausubstanz. Die Neustadt sollte nur noch „abgewohnt“ werden, bis man endlich Zeit und Mittel fände, auch auf der nördlichen Elbseite Plattenbauten zu errichten.
Bequem war das Wohnen zwischen Bautzner Straße und Bischofsweg jedenfalls nicht. Kohleheizung, Klo auf halber Treppe, die Badewanne (immerhin!) in der Küche. Aber man hatte seine Ruhe vor dem durchorganisierten sozialistischen Alltag, als Musterviertel taugte die frühere Antonstadt nicht. Zudem war Wohnraum in der DDR chronisch knapp. In der Neustadt ließ sich zur Not ein Haus besetzen und leidlich herrichten. Und deswegen kamen sie, die Unruhegeister, die Anarchisten, Studenten natürlich, und gestalteten zusammen mit dem Alteingesessenen ein Viertel nach ihren Vorstellungen. Kneipen wurden nach Gutdünken eröffnet, da wo eben Platz war. Bunt und chaotisch sollte die Welt sein.
So wie ihr Stadtteilfest, die Bunte Republik Neustadt. Die Idee wurde in der wilden Wendezeit geboren, natürlich während eines abendlichen Umtrunkes. Im Gegensatz zu anderen schrägen Einfällen wurde dieser in die Tat umgesetzt: Drei Tage wird die Neustadt eine unabhängige Republik sein, mit einem Monarchen als Staatsoberhaupt. Wozu auch Wahlen? Wenn die wirklich etwas veränderten, wären sie längst verboten. Das politische Programm enthielt die Forderung, den Vatikan anzuschließen.
Unser Zeitreisender steigt wieder in seine Maschine. Am Martin-Luther-Platz klettert er hinaus, reibt sich verwundert die Augen. Ist das immer noch das selbe Viertel? Kaum ein Haus unsaniert, Kinderwagen regieren den Bürgersteig, ein BMW fährt vorbei.
Was ist passiert? Stadtgeographen nennen das „Gentrifizierung“. In einer grundsätzlich attraktiven Lage - am besten Gründerzeitviertel, Park um die Ecke, zentral gelegen - bereiten „Pioniere“ den Boden. Studenten, Künstler und sonstige übliche Verdächtige werden von günstigen Mieten angelockt. Alternative Kneipen und innovative Clubs sorgen für Unterhaltung, das junge und ungebundene Publikum für regen Besuch. Aus den Studenten werden Berufstätige, die ihren Stadtteil nicht verlassen wollen. Das bringt Investoren auf den Plan. Die können jetzt mehr für sanierte Häuser verlangen. Wer nicht zahlen kann, wandert in die städtischen Randbezirke ab. Mit der äußeren Veränderung kommt die soziale Umwälzung.
In der Neustadt ist das nicht so brutal abgelaufen wie im Hamburger Schanzenviertel oder auf dem Prenzlauer Berg. Sicher wird es nicht dazu kommen, dass Neureiche ein ganzes Quartier von seinen ehemaligen Bewohnern übernehem, sich also die soziale Zusammensetzung völlig verändert. Wenn man so will, wird die Neustadt vielleicht nicht den Vatikan anschließen können. Immerhin vermag aber auch der Vatikan nicht, die Neustadt zu unterwandern. Hausbesetzungen hat das Viertel lange nicht mehr gesehen, und wer auf wirklich günstigen Wohnraum angewiesen ist wird schwerlich etwas finden. Aber ein Teil vom Echten, Wilden, Anarchischen ist doch geblieben. Der Vatikan hat nicht gesiegt.