Wenn heute Arbeitnehmer Unterstützung bei einer Gewerkschaft suchen, kann man ihnen nur viel Glück wünschen und sie damit aufmuntern, immerhin nicht in einer römischen Kupfermine versklavt zu sein. Seit über 5 Jahren fährt etwa Verdi eine massive Lidl-Kampagne: Die zweitgrößte deutsche Gewerkschaft prangert die massive Beschneidung der Mitarbeiterrechte, die geringe Entlohnung und die Bespitzelung der Angestellten an. Im Streit um Gewerkschaftsarbeit in den Filialen des Discounters musste sich Verdi nun auf einen Vergleich einlassen. Zweimal im Monat darf nun um Neumitglieder geworben werden, jeweils für 30 Minuten. Erfolge sehen anders aus. Wahrscheinlich sieht Verdi das auch selbst so, eine Pressemitteilung gab man lieber nicht heraus. Sogar die Tageszeitung „Die Welt“, der man gewiss keine übertrieben linke Haltung nachsagen kann, kondoliert: „Was sich wie ein Witz anhört, ist für die Gewerkschaft immerhin ein Etappensieg.“ Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um ein politisches Großprojekt, sonder lediglich um die Erfüllung gesetzlicher Mindestanforderungen. Egal ob es sich um Agenda 2010 oder Mindestlohn handelt, ob über Ausweitung der Teilzeitarbeit oder den Bologna-Prozesses an den Hochschulen diskutiert wird: Die Gewerkschaften scheinen ihre Gestaltungskraft verloren zu haben.
Nicht nur neoliberale Marktschreier läuten den Gewerkschaften das Totenglöcklein. Ein Blick auf deren Mitgliederzahlen lässt selbst Optimisten schaudern. Während der Deutsche Gewerkschaftsbund nach der Wiedervereinigung noch fast 12 Millionen Menschen organisierte, sank diese Zahl bis letztes Jahr auf nur noch etwas über 6 Millionen. Das entspricht der Mitgliederzahl des (westdeutschen) DGB in den Nachkriegsjahren! Es ist bedenklich genug, dass die Menschen den Arbeitnehmerorganisationen in Scharen davonlaufen (oder erst gar nicht eintreten). Für schlimmer halten Beobachter den Umstand, dass in neuen Branchen und alternativen Beschäftigungsformen anscheinend nicht einmal versucht wird, großflächig präsent zu sein und neue Mitlieder zu werben. Es ist, als hätte eine der mächtigsten politischen Kräfte die Wandlung zu Dienstleistungsgesellschaft verschlafen, ganz nach dem Motto: Was Tradition ist, muss richtig bleiben!
In keiner politischen Grundsatzdebatten der letzten Jahre hatten die Gewerkschaften mehr etwas zu melden. Die grundsätzlich berechtigte Sorge um Entlohung und Arbeitszeiten für die etablierten Mitglieder scheint so hoch gewesen zu sein, dass sich in der Gewerkschaftsführung niemand mehr für die große Richtung interessieren konnte. Und wo sich doch jemand zu Wort meldete, wurde überdeutlich, dass Gewerkschaften die ideologische Lufthoheit längst verloren haben. Angesichts der unglaublichen Zustände bei den Discountern kann man entsprechende Gewerkschaftsaktionen nur als PR- und Marketingdesaster beschreiben. Man hat sich dem Luxus hingegeben, selbstgewiss die eigene Rolle als institutioneller Sozialpartner nicht in Frage zu stellen. Angesichts einer sich dramatisch wandelnden Gesellschaft eine Torheit. Während draußen die neuen Themen Verkehr, Ökologie und Agenda 2010 diskutiert wurden, begnügten sich drinnen die Gewerkschaftsführer mit dem Verweis auf eine - unzweifelhaft - große Vergangenheit. Wo ist die Kampagnenfähigkeit geblieben? Warum wirbt man nicht offensiv um neue Mitglieder? Ist ein Verband, der immer noch 15% der in Deutschland Beschäftigten repräsentiert, mit aktiver Zukunftsgestaltung statt Rückzugsgefechten wirklich überfordert?
Auch wenn es sich erst auf den zweiten Blick zeigt: Die aktuelle Weltwirtschaftskrise ist eine einmalige Chance, von den Totgesagten wiederaufzuerstehen. Auf absehbare Zeit ist der Neoliberalismus gründlich diskreditiert. Was die Linke immer wieder betont hat - Privatisierung von Gewinnen, Sozialisierung von Verlusten - ist für viele nun offensichtlich geworden. Der fortwährende Verweis auf Notwendigkeiten des Systems hat sich als lächerlich erwiesen. Der Kaiser ist nackt. Jedoch sehen sich viele Menschen nicht in der Lage, ihren politischen Ansichten Gewicht zu verleihen. Weder individuell noch organisiert scheint es eine Möglichkeit zu geben, unsere Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Genau dieses Angebot könnten die Gewerkschaften machen. Sie können sich wieder auf das besinnen, das sie einst gewesen sind: Eine starke Stimme der Schwachen.