Gleicher Lohn für gleiche Arbeit - eine unsinnige Forderung?

Bei Diskussionen über Geschlechterpolitik geht's schnell heiß her. Vielleicht deswegen, weil sich die meisten von uns über keine Gruppenzugehörigkeit so stark definieren wie das Geschlecht. Es fällt oft schwer, hier rational zu argumentieren und nicht eigene Erlebnisse mit dem Ist-Zustand der Gesellschaft zu verwechseln.

In linken Kreisen scheint es ein kaum bestrittenes Faktum zu sein, dass Frauen auch heute noch grundsätzlich benachteiligt werden. Nicht immer, aber häufig geht damit offenbar die Ansicht einher, Männer würden bevorzugt. Sehr oft werden dabei die Unterschiede bei der Bezahlung von Frauen und Männern im Beruf als offensichtliche Ungerechtigkeit angeprangert. So schreibt die Bundestagsfraktion der Linken:
Frauen verdienen im Durchschnitt ein knappes Viertel weniger als Männer – bei gleicher Qualifikation. Im europäischen Vergleich ist Deutschland damit Schlusslicht bei der Gleichstellung. Dabei haben Frauen in der Bildung bereits seit längerem aufgeholt. Mittlerweile schließen junge Frauen die Schule mit besseren Noten ab als junge Männer und es fangen jedes Jahr mindestens genauso viele Frauen wie Männer ein Studium an. Dieser bildungspolitische Erfolg schlägt sich aber nicht in gleichen Chancen auf eine Ausbildung beziehungsweise Erwerbsarbeit nieder. Obwohl Frauen und Männer gleiche Leistungsvoraussetzungen mitbringen, werden sie unterschiedlich behandelt.

Bei vielen politischen Diskussionen stehen Wertentscheidungen im Hintergrund, die nicht empirisch entschieden werden können. Manchmal müssen komplexe Sachverhalte auch heuristisch interpretiert werden, ohne dass man auf eindeutige Fakten verweisen könnte. Hier liegt der Fall jedoch anders. Leider zitiert das Positionspapier der Linksfraktion nicht die Quelle ihrer Aussage. Aber die Zahl kursiert seit geraumer Zeit, deswegen kann man ihre Herkunft zumindest erahnen.

Machen wir uns erst einmal klar: Die Behauptung, Frauen verdienten bei gleicher Qualifikation 25 % weniger als Männer, sagt erst einmal überhaupt nichts aus. Angenommen, jede Frau würde täglich nur eine Stunde arbeiten gehen, Männer aber zehn Stunden. Dann wäre es doch für Frauen großartig, für diese wenige Arbeit nur 25 % weniger als die Männer zu bekommen. Das ist natürlich nur ein provokantes Gedankenexperiment. Es zeigt aber anschaulich, dass nur der Verweis auf die Qualifikation nicht ausreicht, um eine Kausalkette wie im obigen Zitat zu konstruieren. Diese Kausalkette sieht in etwa wie folgt aus: Frauen sind im akademischen Bereich mindestens so gut wie Männer, eher besser. Sie haben nach Gehalt und durchschnittlicher Stellung in der Hiearchie aber nicht annähernd den gleichen Erfolg wie Männer. Daraus folgt, dass Frauen benachteiligt werden. Diese Logik ist jedoch offenkundig unsinnig. Denn beruflicher Erfolg oder auch Bezahlung wird durch eine ganze Reihe von Faktoren bestimmt, nicht allein dem akademischen Erfolg. Und genau diese Faktoren müssen berücksichtigt werden, um ein klareres Bild der Situation zu gewinnen.

Die Zahl "25 %" (genauer: 26 %) stammt vermutlich aus einer Erhebung des Statistischen Bundesamt von 2004. Auch Wikipedia zitiert das Bundesamt als Quelle. Die Zahl an sich ist nicht falsch. Sie verleitet aber zur Interpretation, Frauen würden aufgrund ihres Geschlechtes anders bezahlt als Männer. Eine solche Auslegung gibt die Untersuchung des Statistischen Bundesamtes jedoch nicht her, wie man dort betont:
Aus dem geschlechterspezifischen Verdienstabstand kann nicht geschlossen werden, dass Frauen im gleichen Unternehmen für die gleiche Tätigkeit anders bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen. Die Verdienstunterschiede zwischen Frauen und Männern lassen sich vielmehr durch Unterschiede in der männlichen und weiblichen Arbeitnehmerstruktur erklären. Diese sind beispielsweise gekennzeichnet durch Unterschiede im Anforderungsniveau, der Verteilung auf besser und schlechter bezahlte Wirtschaftszweige, der Größe der Unternehmen, der Zahl der Berufsjahre, der Dauer der Betriebszugehörigkeit und des Ausbildungsniveaus.
Bezieht man diese Faktoren mit ein, verkürzt sich der Lohnabstand recht stark.

Eine andere, ebenfalls häufig genannte Zahl ist "23 %". Sie stammt aus dem "Frauen-Daten-Report" der Hans-Böckler-Stiftung von 2005 und benennt den Lohnabstand zwischen Frauen und Männern in Westdeutschland, bei weitgehender Ausblendung der "anderen Faktoren". Auch sie ist nicht falsch, aber wenig aussagekräftig. Natürlich ist es richtig, wenn die Hans-Böckler-Stiftung schreibt:
Lebens- und Berufschancen sind nach wie vor zwischen Frauen und Männern ungleich verteilt. (...) So haben junge Frauen mittlerweile ein höheres schulisches Bildungsniveau als junge Männer. Bei den Einkommen hat sich die traditionelle Kluft zwischen den Geschlechtern in letzter Zeit trotzdem nicht weiter geschlossen. Beim zeitlichen Umfang der Erwerbstätigkeit ist die Differenz sogar wieder gewachsen - mit negativen Konsequenzen für die eigenständige soziale Absicherung von Frauen.
Es ist jedoch wichtig, nicht nur auf die Schlagzeilen zu achten. Die Pressemitteilung geht nämlich weiter:
Bei der Wahl von Ausbildungsberufen und Studienfächern gibt es nach wie vor erhebliche Differenzen. Frauen konzentrieren sich auf Sozial- und Dienstleistungsberufe sowie auf kultur- oder sprachwissenschaftliche Fächer, die in unserer Gesellschaft geringer bewertet und bezahlt werden. Damit vollzieht sich eine entscheidende Weichenstellung, die mit beeinflusst, dass Frauen später geringere Karrierechancen haben.
Hier wird man natürlich einwenden können, dass Frauen ja auch in den karriereförderlichen "MINT"-Fächern benachteiligt würden. Ist das der Fall? Eher nein: Eine Studie von 2009 berichtete, dass weibliche High-School-Schüler naturwissenschaftliche Fragestellungen einfach langweiliger fanden:
The study found that males generally had a more positive attitude towards science than females. Female students reported higher levels of stress and boredom during science class, though they reported finding the topic less challenging than males did. Despite finding it more challenging, males reported feeling more skilled at science than females did and, when the material became more challenging, they reported that their engagement increased.
Die Studie sagt auch, dass sich Lehrer in den naturwissenschaftlichen Fächern unbewusst durchaus gegenüber Schülerinnen anders verhalten als gegenüber Schülern. Was ich jedoch einfach nicht glauben kann, ist, dass das bereits ausreicht, um die krassen Unterschiede in den Belegungszahlen der MINT-Fächer zu erklären (Gegenposition - aber Kommentare beachten!). Nicht angesichts der zahlreichen Förderprogramme für Frauen in diesem Bereich.

Wenn die "anderen Faktoren" mit einbezogen werden, verschwindet dann der Lohnabstand völlig? Nein. Er liegt irgendwo zwischen fünf und zwölf Prozent. Wie diese zustande kommen, ist nicht ganz klar. Hier treten erhebliche methodische Probleme auf, wie das in den Sozialwissenschaften häufig der Fall ist. Um eindeutig belegen zu können, dass eine Person allein aufgrund ihres Geschlechtes schlechter oder besser bezahlt wird, müsste man alle anderen Faktoren ausschalten. Das geht natürlich nicht. Daher muss man sich auf mehr oder weniger gute Schätzwerte verlassen. So spielen natürlich auch Überstunden und sonstiges Engagement im Unternehmen eine große Rolle, oder das Auftreten bei Gehaltsverhandlungen. Damit sind auch die beiden wichtigen Gruppen der "anderen Faktoren" genannt: Leistungs- und soziale Aspekte.

Noch ein Argument, das in der Debatte um ungleiche Bezahlung häufig vorgebracht wird: Wären Frauen tatsächlich so billig, und das bei gleicher Leistung, wären Unternehmen geradezu wahnsinnig, stellten sie nicht so viele Frauen wie irgendwie möglich ein. Das Argument klingt plausibel. Wie tragfähig es tatsächlich ist, kann ich nicht beurteilen.

Fazit: Ich persönlich vermute, dass Frauen durchaus geschlechtsbedingte Diskriminierungen erleben. Sie sind jedoch sehr viel seltener und sehr viel weniger schwerwiegend, als man nach einer bloßen Schlagzeilenlektüre vermuten würde. Wichtiger jedoch: Nicht nur Frauen werden diskriminiert. Auch Männer erfahren zahlreiche Benachteiligungen aufgrund ihres Geschlechtes. Dieses Thema wird leider in der Linken nur sehr wenig diskutiert (Gegenbeispiel). Versuche, die Geschlechterdiskussion um die oben genannten Aspekte zu erweitern, werden sehr schnell mit Rechtspopulismus-Vorwürfen gekontert.

Das ist fatal. Denn da nach wie vor für die meisten Menschen eine (heterosexuelle) Beziehung zu einer erfolgreichen Lebensgestaltung gehört, dürfen Frauen und Männer nicht gegeneinander ausgespielt werden. Als viel größeres Problem als die ominöse gläserne Decke sehe ich die fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf (es geht auch anders) und die stagnierende Debatte um ein modernes Männerbild. Wenn in diesen Punkten irgendwann einmal größere Fortschritte erzielt werden könnten, wird - so meine gewagte Prognose - der Lohnabstand zwischen Frauen und Männern so gut wie verschwinden.