Bibel und Wahrheit

Da das Thema vielleicht auf Interesse stößt, und mich Kritik/Anregungen/Korrekturen sehr interessieren, mache ich mal die Kommentare auf.

Mich hat schon länger die Frage umgetrieben, inwiefern die Bibel von sich selbst beansprucht, die Wahrheit zu sagen, wie weitgehend dieser Wahrheitsanspruch ist, und wie er begründet wird. Wenig überraschend hängt die Beantwortung dieser Frage davon ab, was man unter Wahrheit versteht, und auf welchen Ebenen die Bibel wahr sein soll. Die Diskussion dieser Frage ist so alt wie die Bibel selbst, jedoch unterscheiden sich Juden und Christen fundamental in der Beantwortung. Innerhalb des christlichen Lagers wiederum gibt es einige wenige, aber stark divergierende Hauptströmungen, die zu sehr unterschiedlichen Antworten kommen.

Zuerst einmal sollte es selbstverständlich sein, dass Juden und Christen ihre jeweiligen heiligen Schriften in irgendeiner Weise für wahr halten. Das grundlegende Argument hier ist, dass die Heilige Schrift eine (von mehreren möglichen) Offenbarungen Gottes ist. Wenngleich Gott die Bibel nicht in der Weise diktiert hat, wie der Engel Gabriel Mohammed den Koran wörtlich offenbarte, so hat Gott doch den Verfassern der Bibel den Text durch Inspiration übermittelt: Die Bezeichnung "Wort Gottes" ist durchaus ernstgemeint. In diesem Zusammenhang geht es demnach um die Frage der Erkenntnisphilosophie, wie (wahres) Wissen zustandekommt. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Formen wie Sinneserfahrung, logische Schlussfolgerung oder Versuch und Irrtum greift bei der Offenbarung eine überirdische Partei ein, die zweifelsfreie Wahrheiten enthüllt.

Dieser Wahrheitsanspruch ist an zahlreichen Stellen in der Bibel zu finden. Beispielhaft sind die beiden folgenden Formulierungen:
Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt. (2. Timotheus 3, 16-17)

Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem Heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet. (2. Petrus 1, 20-21)
Einen weiteren Hinweis auf diesen Wahrheitsanspruch geben Offenbarung und Bergpredigt. Beide weisen darauf hin, dass die Heilige Schrift vollständig ist und in ihrer Einheit nicht verletzt werden darf:
Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. (Matthäus 5, 17-18)

Wenn jemand zu diesen Dingen hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen hinzufügen, die in diesem Buch geschrieben sind; und wenn jemand von den Worten des Buches wegnimmt, so wird Gott sein Teil wegnehmen von dem Baume des Lebens. (Offenbarung 22,18-19)
An vielen anderen Stellen sagen die Protagonisten, Gott habe sich durch sie mitgeteilt oder sich direkt an sie gewandt ("Und Gott der Herr sprach ..."). Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Angelegenheit so zusammengefasst:
Das von Gott Offenbarte, das in der Heiligen Schrift enthalten ist, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden; denn aufgrund apostolischen Glaubens gelten unserer heiligen Mutter, der Kirche, die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch, weil sie, unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben (vgl. Joh 20,31; 2 Tim 3,16; 2 Petr 1,19-21; 3,15-16), Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind. (Dei Verbum 11)

Insofern herrscht Einigkeit darüber, dass Eigenheiten des Verfassers, seiner konkreten Lebensumstände und der übergreifenden Kultur eine wichtige Rolle spielen. Textexegese ist somit zwangsläufig. Die großen Divergenzen bestehen in den unterschiedlichen Auffassungen über die Art der Inspiration, wie demzufolge die Exegese im Detail vorzunehmen ist, und wie über die Richtigkeit der Exegese entschieden werden kann.

Die Notwendigkeit der Exegese besteht jenseits der Meta-Überlegungen zuerst darin, dass einige Stellen schlichtweg unverständlich sind. Natürlich finden sich auch Behauptungen wie "Die Bibel ist zum einen ein Buch, das sehr einfach und leicht verständlich ist." Mir erscheint diese Feststellung jedoch angesichts zahlreicher Gegenbeispiel substanzlos. So schreibt Johannes (6, 54) Jesus die Worte zu: "Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken." Ist es nun einfach, die Metapher zu sehen? Oder wäre es nicht viel leichter verständlich, fasste man diesen Satz wörtlich auf? Selbst wenn man sich einigt, dass es sich hier deutlich um das Abendmahl handelt, ist noch längst nicht geklärt, ob beim Trinken des Weines und beim Essen der Hostie beide sich biologisch in Blut und Fleisch Jesu verwandeln, oder ob es sich wiederum um eine Metapher handelt, oder ob es nicht noch eine ganz andere (metaphysische) Bedeutung geben kann.

Eine besondere Bedeutung erlangt die Textdeutung in Bezug auf die Einheit von Altem und Neuem Testament. Sind Christen den die 613 jüdischen Gebote verpflichtet oder nicht? Selbstverständlich gilt auch das Alte Testament vollumfänglich für Christen, könnte man beim Lesen des oben zitierten Matthäus 5, 17-18 meinen. Dem widerspricht (zumindest dem Anschein nach) aber das als Doppelgebot von der Gottes- und Nächstenliebe bekanntgewordene Jesus-Wort aus Matthäus 22, 37-40: "Jesus aber antwortete ihm: 'Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt' (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst' (3.Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten." Dieses Doppelgebot wird (nach meiner Kenntnis) ganz üblicherweise dahingehend interpretiert, dass die Gesetze des Alten Testaments eben nicht mehr verpflichtend sind für Christen, weil insbesondere die Nächstenliebe allen Einzelgeboten übergeordnet ist (siehe als Beispiel hier). Somit konnte Jesus den Bruch der Sabbatruhe rechtfertigen, an dem er Kranke heilte. In bester jüdischer Schriftgelehrtentradition hatte Jesus also den Tanach exegiert, mündlich und situationsbezogen, im Streitgespräch mit den Pharisäern.

In der christlichen Alltagspraxis scheint jedoch ein Mix aus alt- und neutestamentarischen Geboten vorzuherrschen. Das Bilderverbot ("Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.") ist meiner Meinung nach klarer Bestandteil des Dekalog, wie er im 2. und 5. Buch Mose überliefert ist. Es findet dennoch unter Christen heute keine Anwendung mehr. Andere Gebote werden jedoch nicht hinterfragt: Ganz selbstverständlich gilt Homosexualität als Sünde (3. Mose 18, 22). Eine witzige Polemik zu dieser Problematik findet sich hier, ein ernsthafter und kluger Text hier.

Wir halten fest: Die Bibel versteht sich als das Wort Gottes und damit per Definition als wahr. Diskutiert wird die Natur dieser Wahrheit, und wie sie der Heiligen Schrift entnommen werden kann. Dazu ist Exegese notwendig. (Dieser letzte Punkt wird meines Wissens nur von theologischen Laien bestritten. Deswegen werde ich darauf nicht eingehen.)

Wenngleich auch eine Beleuchtung der jüdischen Exegese spannend wäre, möchte ich mich auf die christlichen Traditionen beschränken. Seit dem dritten Jahrhundert nach Christus etablierte sich die Auffassung vom vierfachen Schriftsinn. Sie dominierte die christliche Textinterpretation bis zur lutherischen Reformation und wird noch heute im katholischen Katechismus (KKK) vertreten. Grundsätzlich beabsichtigt man, mittels dieser Methode weit über die rein historische Auslegung der Bibel hinausgehen zu können, hin zu einer geistig-geistlichen Vollkommenheit. Die verlinkte Stelle im KKK enthält eine konzise Darstellung, wie im katholischen Glauben die Heilige Schrift auszulegen ist. Recht prägnant ist hier auch noch einmal die Auffassung von der Inspiriertheit der Bibel: "In der Heiligen Schrift spricht Gott zum Menschen nach Menschenweise. Um die Schrift gut auszulegen, ist somit auf das zu achten, was die menschlichen Verfasser wirklich sagen wollten und was Gott durch ihre Worte uns offenbaren wollte." (KKK 109) Mehr Details finden sich auch im Dei Verbum, Kapitel III.

Die lutherische Reformation brach mit dem vierfachen Schriftsinn und beschränkte sich allein auf den Wortsinn. Damit kam änderte sich auch die Vorstellung des wie-kommt-Wissen-in-die-Welt: Man rückte ab von der allgemeinen Vorstellung von der Inspiration und ging über zur wesentlich strengeren Verbalinspiration. Demnach habe der Heilige Geist also nicht nur durch die Menschen gesprochen (vgl. Dei Verbum 11). Vielmehr ist die Schrift im genauen Wortlaut offenbart worden. Eine solche gravierende Änderung stellte eine Notwendigkeit dar, denn die lutherische Orthodoxie musste ihr Prinzip der Sola Scriptura absichern. Allein die Schrift soll Maßstab sein für den richtigen Glauben. Nur auf diesem Weg ließ sich in der Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Kirche argumentieren, dass die Ansichten des Papstes für den richtigen Glauben im Grunde irrelevant seien.

Verbalinspiration darf aber nicht überinterpretiert werden. Auch Luther sah die Notwendigkeit der Textauslegung. Das Verständnis der Bibel geht in jedem Fall über den genauen Wortlaut hinaus. Die entscheidende Frage ist, wie die Richtigkeit der Auslegung gesichert werden kann. Die katholische Kirche hält einen externen Maßstab für notwendig, der eben über die Schrift hinausgeht. Dieser Maßstab besteht - neben dem inneren Maßstab Heiliger Geist - in der Beachtung kirchlicher Traditionen.
Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, daß man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Exegeten ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam auf Grund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift. Alles, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottergebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen. (Dei Verbum 12, 9-10)
Im Kern geht es also um das Verhältnis von Kirche und Bibel. Die römisch-katholische Kirche argumentiert, dass sie eine Autorität über die Bibel habe und damit eine richtige Interpretation der Heiligen Schrift nur in ihrem Rahmen zu gewährleisten ist. Genau diesem Verständnis widerspricht Luther. Er argumentierte, nicht nur sei die Heilige Schrift an sich klar genug, um verstanden zu werden. Darüber hinaus bewirke auch der Heilige Geist das nötige Verständnis. Denn zentral für die Bibel sei die "Christusbotschaft", die ja nun gerade vom Heiligen Geist übermittelt wurde. Somit ist einziger Maßstab für die richtige Bibelauslegung, inwiefern eine Interpretation einen Menschen Christus näherbringt. Auf dieser Grundlage dürfen Kirche und auch biblische Schriften sogar kritisiert werden, so lange der innere Maßstab der Bibel angelegt wird. In jedem Fall stellt die Bibel die einzig wahre Autorität dar, nicht etwa die Kirche.

Von der Verbalinspiration ausgehend hat sich besonders im 20. Jahrhundert noch eine radikalere Variante der Bibelauslegung gefunden: Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Bibel. Er ist besonders in der Evangelikalen Bewegung populär ist. Diese Bewegung ist innerhalb der traditionellen evangelischen Kirchen angesiedelt, konnte aber auch eigenständige Strukturen etablieren. Besonders stark ist die Bewegung in den USA. Sie ist in den letzten 40 Jahren jedoch ebenso in deutschen Landeskirchen und Freikirchen populär geworden. Ein besonders eindrückliches Dokument evangelikalen Bibelverständnisses ist die Chicago-Erklärung (CE) von 1978. Sie bekennt sich explizit zu einer (logischen) Widerspruchs- und Fehlerfreiheit der Bibel und verwirft Anschauungen, wonach auch die Heilige Schrift nicht in allen Teilen unfehlbar sei. Im Gegensatz zur lutherischen Überzeugung ist demnach sogar eine Kritik der Bibel ausgeschlossen. Die Notwendigkeit zur Textinterpretation wird aber auch in der CE gesehen. Die Bibel ist demnach wortwörtliche wahr, aber nicht notwendiger Weise wortwörtlich interpretierbar. Jedoch trägt jedes Wort die göttliche Botschaft.

Der Interpretierbarkeit der Bibel setzt Artikel XVIII der CE somit deutliche Grenzen:
Wir bekennen, daß der Text der Schrift durch grammatisch-historische Exegese auszulegen ist, die die literarischen Formen und Wendungen berücksichtigt, und daß die Schrift die Schrift auslegt.

Wir verwerfen die Berechtigung jeder Behandlung des Textes und jeder Suche nach hinter dem Text liegenden Quellen, die dazu führen, daß seine Lehren relativiert, für ungeschichtlich gehalten oder verworfen oder seine Angaben zur Autorschaft abgelehnt werden.

Selbst eine radikale Position wie die CE ist, jedenfalls nach Eigenauskunft, keine Diktat-Vorstellung. Auch die evangelikale Position zur Inspiration bleibt dem Gedanken treu, dass der Heilige Geist die Niederschrift der Bibel zwar überwachte und fehlerfrei hielt. Dennoch wird in den Verfassern mehr als ein bloßes Werkzeug gesehen. Es wird ihnen zugestanden, spezifische Eigenheiten in den Text eingebracht zu haben. Insofern ist die evangelikale Position abgrenzbar gegen christlichen Fundamentalismus, die tatsächlich nur ein wortwörtliches Bibelverständnis zulassen.

Wie glauben Evangelikale, die Richtigkeit einer Bibelinterpretation (und damit die Wahrheit) bestimmen zu können? Im Wesentlichen scheint mir das Argument zu sein, dass eine wahre Auslegung nur mit Hilfe des Heiligen Geistes bewältigt werden kann. Die Hürde ist also nicht intellektuell, sondern spirituell. Weiterhin rücken Evangelikale ab vom lutherischen Claritas Scripturae: Sie halten Unverständlichkeiten für gottgegeben. Nur Gottes Inspiration kann sie überwinden helfen, keine menschliche Anstrengung.

Sowohl bei der katholischen Position als auch beim lutherischen Sola Scriptura kann ich noch ein gewisses externes Wahrheitskriterium entdecken. Im ersten Fall handelt es sich um die kirchliche Autorität, im zweiten Fall um das Potential einer Interpretation, Menschen an Christus heranzuführen. Zumindest auf den ersten Blick ist die evangelikale Position jedoch der Gipfel der Zirkularität, ganz im Sinn von "Wenn's richtig ist, dann stimmt's." Aus einer theologischen Sicht scheinen mir die Evangelikalen daher die schwächste Position zu haben. Da sie jedoch mit der größten Überzeugung vorgetragen wird und diese Gruppe wohl im Wachstum begriffen ist, halte ich es für wahrscheinlich, dass sie in den nächsten Jahren an Popularität gewinnt.